Die bisher bewährte Technik, Zelluloidkopien herzustellen und
überallhin zu schicken, wird sich bald historisch überholt haben. Es
wird keine Filmrollen mehr geben, sondern die Verleihfirmen werden
die Filme über eigene Kanaile, über Glasfaser oder Satellit, per
Datenstrom einspeisen. In den Kinos wird es einen Pufferspeicher
geben, in dem die Programme gespeichert und zu beliebigen Zeitpunkten
abgerufen werden können. Der Projektor wird keinen Filmstreifen
enthalten, sondern einen Chip mit Millionen von winzigen Spiegeln, die
durch eine elektrische Ladung ihre Lage verändern. Oder das Bild wird
mittels Lasertechnik direkt auf der Leinwand entstehen.
Wie verändert sich damit das Kino als Ort?
Die neuen Projektoren machen keinen Lärm. Man kann unter der Decke oder sogar an der Seite anbringen, weil sich die Verzerrung elektronisch wegrechnen läßt.
Heißt das, wir brauchen braucht keine Kinos mehr, weil man die Filme
genausogut im Theater, in der Kirche oder im Wohnzimmer zeigen kann?
In jedem beliebigen Raum. Die Projektion ist in jede beliebige Richtung
lenkbar, womit auch das Publikum mobiler wird. Die Ausrichtung des
Publikums, das ja immer noch wie im Theater vor einer Bühne mit
Vorhang sitzt, erweist sich dann als Relikt aus einer alten Welt. Diese
immense Freiheit macht uns zunächst natürlich hilflos, weil die Räume
für dieses Kino der Zukunft noch gar nicht erfunden sind. In der Frühzeit
des Films offnete sich der Vorhang, und der Blick wurde über die
Leinwand hinaus bis nach Hollywood gelenkt oder zumindest bis in die
Reichshauptstadt. Heute ist die Erfahrung, daß Bilder in jedem
Augenblick von überallher zu uns kommen können, keine Sensation mehr.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir uns Uber das Internet auch die
neuesten Kinofilme ins Wohnzimmer holen können. Das Angebot wird
universell und technisch hochwertig sein, so daß das Argument der
Erbärmlichkeit des Fernsehbildes hinfällig wird. Wir müssen uns also
fragen: Warum geht der Mensch noch ins Kino?
Und?
Weil dort ein anderer Instinkt befriedigt wird. Der Mensch ist ein Lebewesen mit zwei Grundnaturen, einer privaten und einer öffentlichen. Die eine trachtet danach sich regressiv in Höhlen zurückzuziehen, die andere sucht die Gesellschaft. Deshalb dürfen im Kino der Zukunft die Ausgänge nicht auf die Straße gehen, sondern müssen ins Innere des Gebäudes zurückführen. Es muß dort ein breites Kommunikationsangehot geben, wie es in den Multiplexen ja schon der Fall ist. Wer aus dem Kino kommt sucht die Gesellschaft derer, die dasselbe erlebt habem selbst wenn man darüber nicht spricht.
Ist das ein Grund warum Filmfestivals so beliebt sind und die Leute dort in Filme drängen, die im normalen Kinoalltag kaum eine Chance haben?
Es ist eins der Geheimnisse der Festivals, auf denen sich die Gemeinschaftserfahrung ja konzentriert. Auf die Frage, was das Kino der Zukunft und den Festivalfilm vom derzeitigen Kinoalltag unterscheidet, gibt es eine einfache Antwort: Der Unterschied ist der Applaus. In den Anfangszeiten des Kinos hat man nach dem Film applaudiert. Ursprünglich galt der Applaus dem Projektionisten, weil er die neuen Maschinen beherrschte und als einziger live anwesend war. Später hat man eine Vielzahl von Live-Elementen hinzugefügt: den Kinoerzähler, die Musik und den Auftritt der Stars. Wir müssen zum Kino mit Applaus zurückkehren und wieder Live-Elemente einführen. Wenn der Zuschauer den Eindruck hat, daß sein Gegenüber bloß eine Konserve ist, applaudiert er nicht. Es war ja sein Bedürfnis nach Gemeinschaft, das ihn aus seinen vier Wänden getrieben hat, und zu diesem Bedürfnis gehört, daß er sich äußern und sich seine eigenc Anwesenheit bestätigen kann. Durch das Klatschen erfahren die Leute, daß sie da sind. Der Produzent eines Films ist das Publikum.
Wie werden sich die Bilder selbst verändern? Welche Folgen hat die technische Entwicklung für die Ästhetik des Kinos und seine Geschichten?
Bisher gab es bei der Produktion keinen großen Unterschied zwischen der Herstellung von Fernseh-, Video- und Filmbildern. Aber in dem Augenblick, in dem die Distribution verschiedene Wege einschlägt, wird sich auch die Produktion ausdifferenzieren. Wenn die feste Blickrichtung im Raum wegfällt und sich die Bilder frei im Raum bewegen, kann das Kino simultan werden und mit mehreren Bildern enählen. Darin steckt ein ungeheures Potential an Freiheit, zum Beispiel die Freiheit zu entscheiden, wo man hinschaut. Im Sprechtheater gibt es das längst. Schon die Mysterienspiele im Mittelalter waren Simultantheater.
Wo bleiben dann die Geschichtenerzähler? Eine Geschichte ist an die
Logik der linearen Abfolge gebunden. Gerade Sie sind doch in Ihren
beiden "Heimat"-Chroniken ein leidenschaftlicher Erzähler.
Die Linearität hat mich immer furchtbar geplagt. Um Simultanität in
die lineare Enählung einzuflechtenb mußte man sich dramaturgischer
Kniffe bedienen wie der Parallelmontages dem Arbeiten mit Vorder-
und Hintergrund oder der zeitlichen Staffelung von Gleichzeitigem. Die
Bildschirme für das Simultankino sind doch längst vorhanden: auf
Messen und Veranstaltungen, in Hotelhallen, Bahnhöfen und Flughäfen.
Uberall laufen die Bilder. Was wäre das für eine Sensation, wenn
plötzlich eine Geschichte auf allen Bildschirmen liefe. Es wäre doch
eine Erlösung, wenn im Chaos der Biìder plötzìich der Zusammenhang
einer Geschichte entstünde.
In Ihrem Buch "Bilder in Bewegung" sprechen Sie von der Wiedergeburt des Epos aus den Netzwerken. Sie träumen von Filmen mit Romandimension. Was sind das für Filme?
Zunächst ist das nichts Neues. Alle Geschichten der griechischen
Mythologie sind untereinander verflochten. Diese Verflechtung kann nie
ein Mensch alleine betreiben, sie werden über Generationen
weitergestrickt. Auch die Filmgeschichte kennt ja mythische Figuren
wie das FrankensteinMonster oder King Kong oder Charlot. Allerdings
blieb es bisher beim Ansatz von Mythenbildung, weil immer die
Produktionsentscheidung dazwischenkam, die auf das Originelle, das
Neue setzte. Sobald die audiovisuellen Medien zum allgemein
verfügbaren Gegenstand werden, sobald es eine ungeteilte
Öffentlichkeit gibt, können sich diese Mythen entfalten. Im Kino meiner
Träume wird es deshalb immer zwei Säle geben. Einen für das Neue wo
der Film sich loslöst von den traditionellen raumlichen Gegebenheitens
und einen zweiten für das Kino des Wiedersehens, für die Begegnung mit
der Filmgeschichte. Denn es kann kein lebendiges Erzählkino geben, das
sich nicht an seine eigene Geschichte erinnert.
Wenn alle gemeinsam an den Mythen stricken wo bleibt dann der Autor?
Hat der Beruf des Filmemachers sich bald überholt?
Nein, es wird ihn weiter geben, aber seine Grenzen liegen woanders. Er definiert sich nicht mehr über Originalität und Abgrenzung, sondern durch Teilnahme. Bis jetzt sind wir durch das Urheberrecht und die Konkurrenz der Macher zur Abgrenzung gezwungen. Wir können es kaum wagen, von Kollegen, schon gar nicht von lebenden eine Figur zu übernehmen, weil wir damit nicht nur Autoren-, sondern auch Anstandsrechte verletzen und unserem Ansehen als Schöpfer schaden. Aber ich kann mir eine Situation vorstellen in der solche Verletzungen nicht mehr existenzgefährdend sind.
Wie arbeitet denn der Filmemacher der Zukünft: im Dachstüben vor dem Computer oder als Angestellter eines Medien-Multis?
Es wird beides geben, und in beiden Fällen werden die Bilder nicht mehr beim Drehen entstehen, sondern bei der Postproduction. Jedes Bild, das wir mit der Kamera erzeugt haben, kann nachbearbeitet werden, und zwar viel radikaler, als das bisher tricktechnisch möglich war. Menschen Zeiten, Orte, Bewegungen - jede Komponente kann beliebig verändert werden. Künstlerisch und kommerziell öffnet sich damit eine unbegrenzte Welt. Wir sollten keine Angst haben, daß uns die neuen Techniken von unseren alten Träumen wegführen. Aber ich sehe auch die Gefahr des Verlusts von Individualität und Freiheit. Ich glaube schon, daß man in Zukunft mit leichtem Equipment im Dachstübchen phantastische Filme produzieren kann. Die Frage ist bloß, wer sie sehen kann, das heißt, ob der Filmemacher einen Zugang ins große Netz hat oder ob die Vertriebswege in den Händen von Konzernen liegen. Als Skeptiker befürchte ich, daß es die individuellen Einspeisungspunkte nicht mehr geben wird.
Ist diese Angst Ihr Motiv am Kino der Zukunft mitzubasteln? Warum gibt es in Ihrer Ceneration mehr Pioniere des elektronischen Zeitalters als unter den jungen Filmemachern?
Wir sind aufgewachsen mit der Vorstellung, daß man mit der Wissenschaft, mit Technik, Medizin et cetcra eine immer bessere Welt zuwege bringen kann. Der heute Zwanzigjährige ist mit dem Ozonloch aufgewachsen und glaubt das nicht. Was bleibt den Jungen anderes übrig, als ihre Angst vor der Zukunft zu verdrängen und dafür zu sorgen, daß sie im Augenblick möglichst viel Spaß haben? Zu diesem Lebensgefühl passen die Komddien, dazu paßt, daß, wer von der Filmhochschule kommt, sich sofort an den Karrieren orientiert. Selbst bei intelligenten Jungfilmern wie etwa Caroline Link ist ein Sicherheitsbedürfnis zu spüren, das sich erzählerisch und dramaturgisch niederschlägt. Wer heute geboren wird, hat quantitativ weniger Zukunft als wir. Deswegen sind Bir Älteren nach wie vor für die Zukunft zuständig.
Ausgerechnet Sie als einer der Protagonisten des Oberhausener Manifests von 1962 fordern die Abschaffung der staatlichen Filmförderung die ja die entscheidende Errungenschaft der Autorenfilmer war. Nehmen Sie damit nicht den Jungeren das letzte bißchen Zukunft?
Die Forderung nach Abschaffung der Filmörderung ist natürlich eine Provokation. Aber ich frage mich, ob nicht irgendeine Generation die Durststrecke auf sich nehmen muß, damit neue, effektivere Finanzierungsstrukturen aufgebaut werden können. Wir haben damals die Fördenmg gewollt, weil wir die Kultur nicht dem Wettbewerb überlassen wollten und andernfalls ein Stück gesellschaftliche Identität flötengegangen wäre. Dabei spielte auch die Teilung Deutschlands eine Rolle, denn Kulturpolitik war Identitätspolitik.
Mit der Globalisierung hat sich die Frage des Geldes von den territorialen Grenzen gelöst. Der Staat nicht kann mehr definieren, was Kulturförderung ist. Er stiftet selbst keine Identität mehr, ist also nicht mehr Bestandteil von Kultur. Das hat zur folge, daß der Staat als Partner ausfällt. Filmförderung ist keine kulturpolitische Angelegenheit mehr, sondern reine Standortpolitik.
Wer bezahlt dann die Filme der Zukunft?
Sie werden nicht mehr aus nationalen Töpfen finanziert. Ein Kinfofilm
amortisiert sich niecht auf einem Territorium von der Größe Europas.
Damit aber in ganz Europa coproduktionsstructuren entstehen können,
muß sich auch das Filmemachen selbst europäisieren. Ich meine nicht
den Euro-pudding, der ist ein Brüsseler Mißverständnis. Das europäische
Kino gab es ja schon einmal. Fellini, de Sica oder Truffaut waren große
Europäer, weil sie ganz italienische oder französische Geschichten
erzählt haben, aber mit einem europäischen Gestus. Sie waren Kinder
des europäischen Geisteslebens und trugen die Kulturgeschichte
Europas im Herzen. Ein Identitätsgefühl kann nur entstehen, wenn wir
einander permanent unsere Geschichten erzählen. Ich kenne kein
besseres Mittel dafür als das Kino.
Der deutsche Film könnte dazu aber nicht viel beitragen: Geschichten
aus der Gegenwart erzählt das Kino hierzulande seit Jahren nicht mehr.
Was ein großer Fehler ist. Offenbar glauben viele Filmemacher nicht,
daß die anderen daran ein Interesse hätten.
Liegt es vielleicht daran, daß den Deutschen das Nationale seit dem
Nationalsozialismus suspekt ist?
Das geht sogar noch weiter zurück. Die deutsche Landschaft kam schon
zur Zeit der Weimarer Republik im deutschen Kino nicht vor. Der
deutsche Film ist ein Studiofilm. Das hat damit zu tun, daß der
Protestantismus die Deutschen sehr stark geprägt hat. Wir sind ein
Volk des Wortes und der Begrifflichkeit. Was wir der Welt bisher zu
erzählen hatten, war weniger, wie es bei uns daheim aussicht, als
welche Gedanken wir denken. Aber wir sollten begreifen, daß unsere
Nachbarn ein Interesse daran haben, zu erfahren, wie wir leben. In den
Filmen der katholischen Länder, in Italien vor allem, sind die Städte und
Landschaften permanent präsent. Von Fellini weiß doch jeder daß er in
Rimini geboren ist.
Seit "Heimat" weiß auch jeder, daß Sie aus dem Hunsrück stammen.
Weil ich katholisch und eine Ausnahme bin.
Was mußte sich an der europäischen Filmpolitik ändern?
Die europäische Förderpolitik ist ja noch maroder als die deutsche. Was
in Brüssel passiert, ist ein Skandal. Es gibt dort keine Kulturpolitik,
sondern nur eine Politik des Geldes. Man geht von der Idee aus, daß das
europäische Kino nur gesunden kann, wenn es konzernartige
Großproduzenten gibt wie in Hollywood. Dabei müssen die Investitionen,
sollten sie in Zukunft noch fließen, aus dem Produktionsbereich
abgezogen werden und den Vertriebswegen zugute kommen. Ich schlage
außerdem vor, den Neubau von Kinos zu fördern. Wenn ein Kino
bestimmte architektonische und technische Standards erfüllt und sich
verpflichtet, zu sechzig Prozent europäische Filme zu spielen, müßte
die EU den Bau bezahlen. Es gibt seit Jahren eine EU Kinoförderung, mit
der die Filmkunsttheater subventioniert werden. Aber das sind
abgewetzte Schuppen. Dabei hat die EU die Macht und das Geld, ein Netz
von Spielstätten zu schaffen, die dem Publikum das Gefühl verschaffen,
sich nicht ins Gestern, sondern in ein Morgen zu begeben, in der das Kino
Zukunft hat, vorne liegt und europäisch ist.
Das Gespräch führte Christiane Peitz
Edgar Reitz, Jahrgang 1932, hat im deutschen Fernsehen Filmgeschichte
geschrieben: Seine elfteilige Dorfchronik "Heimat" (1984) und die
Fortseizung "Die zweite Heimat" (1992) gehören zu den herausrasenden
Werken des bundesdeutschen Nachkriegsfilms. Seit Herbst 1995
arbeitet Reitz, der schon in den sechziger Jahren mit
avantgardistischen Filmtechniken experimentierte, an der
Weiterentwicklung des Mediums: Am Europäischen Institut des
Kinofilms Karlsruhe (EIKK) will er gemeinsam mit Architekten, High
Tech-Experten und Medienwissenschaftlern ein Modell für das Kino der
Zukunft entwerfen. Nach der Streichung von bereits zugesagten
Subventionen ist das Institut allerdings in seiner Existenz bedroht.
Reitz, der letztes Jahr bei einer Podiumsdiskussion in Mannheim die
Abschaffung der deutschen Filmförderung gefordert hat, bereitet zur
Zeit einen neuen Spielfilm vor und bemüht sich um die Finanzierung für
sein drittes "Heimat"-Projekt: "Die Erben" - eine Chronik der letzten
hundert Tage unseres Jahrhunderts.