Ein Jahrhundert wird abgewählt

Timothy Garton Ash

Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990

Hanser

6 Das Leben der Toten

Mitte der achtziger Jahre erschienen zwei gewaltige Filme über Themen, die im Mittelpunkt unserer jüngsten Geschichte stehen: Claude Lanzmanns neuneinhalbstündiger Film über den Holocaust, ªShoah´, und Edgar Reitz' noch längere Darstellung des deutschen Lebens im 20, Jahrhundert, ªHeimat´. Beide Filme haben großen kritischen Zuspruch gefunden, und beide haben bittere Kontroversen ausgelöst. Sie erzählen uns von Deutschen, Polen und Juden in der schlimmsten und letzten Periode ihrer gemeinsamen Geschichte. Meine Beurteilung beider Filme stammt aus dem Jahr 198s.

Heimat ist ein Film über die Erinnerung. Erinnerung ist trügerisch. So auch Heimat. Die hartnäckigsten Trugbilder entstehen durch ein offenbar willkürliches Hin- und Her zwischen Schwarz und Weiß, Farbe und einfarbigem Filter, und Sepia, ein Kunstgriff, der die vollen fünfzehneinhalb Stunden des Films beibehalten wird. In den ersten ein, zwei Stunden die Zeit der Weimarer Republik - empfand ich diesen Kunstgriff klischeehaft (Sepiafotografien aus einem alten FamilienalLum, was könnte offensichtlicher sein?) und zunehmend irritierend. Aber als wir 1945 erreichten, begriff ich denTrick. Denn wem die dreifiger Jahre in den ländlicllen Gegenden Deutschlands als die spannungsgeladenen goldenen Jahre des Wohlstands gezeigt werden, wem die Deutschen als Opfer des Kriegs dargestellt werden, der fragt sich unwillkürlich: Wo aber bleibt die andere Seite? Was ist mit Auschwitz? Wo bleibt die moralische Wertung des Regisseurs? Die Farbfilter antworten insistierend: ªErinnere dich, erinnere dich, daß dies ein Film über die Erinnerung der Deutschen ist. An manches erinnern sie sich farbig. An manches in Sepia. Anderes ziehen sie vor zu vergessen. Erinnerung ist selektiv. Erinnerung ist partiell. Erinnerung ist unmoralisch.´

Mit diesem simplenTrick gelingt es Reitz, sich von den Ketten zu befreien, die fast jeden deutschen Künstler erdrückten, der sich mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat. ªWir versuchen, keine Urteile zu fällen´, schreibe er. Die Qual der unparteiischen Regie, die gewissenhafte Zuordnung von Schuld, Verantwortung oder Scham ist seine Sache nicht. Und es ist nicht seine Sache, mit der Vergangenheit ªabzurechnen´ oder sie zu ªbewältigen´. Keine Vergangenheitsbewältigung. Kein Bithurg. Nur Erinnern und Vergessen.

Das ist der Schlüssel zum künstlerischen Erfolg von Heimat. Andere Gründe dafür sind offensichtlicller und geläufiger. Die Aufbietung weniger, gut ausgeformter Charaktere ennöglicht es dem Zuschauer, sich mit ihrem Leid zu identifizieren, wohingegen Statistiken und Dokumentationen ihn kalt lassen. Reitz sagte, daß er Heimat zum Teil auch als Reaktion auf die amerikanische Soap-Opera Holocaust konzipiert habe, die so gewaltige und kathartische Auswirkungen auf das Deutschland der siebzigerJahre hatte. Dennoch gründete ein GroLteil des Erfolges, den Heimat als westdeutsche Fernsehserie I984 hatte, auf den gleichen Seifenoper-Qualitäten, die auch den Erfolg der Serie Holocaust ausgemacht hatten. Immerhin aber ist diese Seifenoper qualitativ überdurchschnittlich.

Die Darsteller sind wunderbar. Marita Breuer bringt das Bravourstück fertig, die Hauptfigur Maria, Reitz' Mutter Courage, von der Igjährigen (im Jallr 19 19, mit dem der Film beginnt) bis zur 82jährigen (1982, das Jahr, in dem der Film mit ihrem Tod endet) außergewöhnlich glaubhaft zu portrnitieren. In den detaillierten Rekonstruktionen der Vorkriegszustände eines Dorflebens im Hunsrück, im südlichen Rheinland, zeigt sich, daß Reitz keinen Aufwand gesclleut hat. Als Langsamkeit noch das Dorfleben bestimmte, hat Reitz den Mut, mit Langsamkeit auch seinen Film zu führen. Gelebt wurde im Dialeke, also sprechen auch die meisten seiner Figuren den schweren Dialekt des Hunsrück (und er besetzte wichtige Rollen mit Menschen aus der Gegend, anstatt mit professionellen Schauspielern). Heimat ise auch komisch.

ªIn München haben die Spartakisten die Trambahnen gestürmt´, erzählt 19l9 jemand einer kleinen Gruppe im entlegenen Dorf Schabbach. ªGottseidank gibt es hier keine Trambahnen.´ Keine Straßenbahnen, keine Autos, keinen Strom und keine Telefone... Aber der Sohn des Schmieds, Paul Simon, baut nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg das erste Radio von Schabbach (ein fiktives Dorf, es könnte jedes im Hunsrück gewesen sein) und hält um die Hand von Maria an, der Tochter des Bürgermeisters. Sie bekommen zwei Söhne, Anton und Ernst. Sie scheinen glücklich zu sein. Eines Tages aber, 1928, setzt Paul sich seine Mütze auf und geht fort. Niemand weiß, wo er hingegangen ist. Niemand weiß, warum. Maria zieht weiter ihre Kinder groß - Mutter Courage alleine. Einige Ernten später sehen wir plötzlich einen Fackelzug auf den Straßen der Kreisstadt. Hitler ist an die Macht gekommen. Niemand im Hunsrück scheint so richtig zu wissen, wie oder warum. Wieder einmal der Wille Gottes? Hi~ler komm~ an die Macht - und Telefon und Automobil kommen ins Dorf. Nazismus, der sich in der Stadt als Wächter des traditionellen deutschen Landlebens präsentiert, all dessen, was Heimat genannt wird, tritt auf dem Land als Revolution moderner Technologie in Erscheinung. Es ist eine grof artige Zeit. Eduard, Pauls schwäclllicher älterer Bruder, wird der Nazi-Bürgermeister, und seine laute, ehrgeizige Frau Lucie, die ehemalige Bordellschönlleit aus Berlin, baut eine große Villa.

1938 kommen Tausende von Männern der Organisation Todt (das staatliche Bau- und Konstruktionsimperium, das sich nach seinem Chef Fritz Todt nannte) in die Nachbarschaft, um eine von Hitlers neuen Autobahnen zu bauen. Ein leitender Ingenieur, Otto Wohlleben, wird in Marias Haus einquartier~. Sie verlieben sich. Inzwischen blühen die Geschäfte der Bauern und Händler. Marias Schwager, ein Juwelier, treibt schwungvollen Handel mit Totenkopf-Ringen für die Männer der Organisation Todt. Noch nie ging es ihnen so gut im Hunsrück. Nur der einäugige Dorftrottel denkt nach und verfolgt die Telefondrähte bis zu ihren Anfängen zurück. Sie führen ihn zu einem Konzentrationslager. Aber wir bekommen nur eine Ahnung davon zu sehen, von außerhalb.

Ein Jahr später ist das Glück von Maria und der Heimat zerstört. Maria bekommt einen Brief von Paul, der nun eine Fabrik in Detroit besitzt, und beendet ihre Affaire mit Otto in großem Gefühlsaufruhr. Die Heimat zieht in den Krieg. Marias jüngerer Bruder Wilfried, ein SS-Offizier, regiert ein Dorf aus Frauen, Kindern und I;remdarbeitern. Ernst ist Kampfflieger, Anton Soldat an der Ostfront. Marias Liebhaber Otto hat sich freiwillig zum Dienst als Bombenentschärfer gemeldet. 1944, als er endlich erfährt, daß er einen Sohn mit Maria hat, Kleinhermann, arrangiert er eine Fahrt nach Schabbach. Maria und er sind wieder vereint, aber am nächsten Tag wird er durch eine Bombe getötet. Die Heimat und Maria sind schwer getroffen. Die Amerikaner kommen an.

Diese erste Hälfte des Films, bis I945, ist vorzüglich: komisch, traurig, gespenstisch. In ihrer Beschwörung der komplexen Beziehungen zwischen Modernisierung und Nazismus ist sie historisch intelligent gemacht. Sie zeigt uns, sehr bewegend, die deutsche Erfahrung des Krieges und deutsches Leiden - gewiß ein legitimes Unterfangen. Ich sehe nicht die geringste Rechtfertigung für den Vorwurf, den der französisch-jüdische Schriftsteller Marek Halter in einem Artikel in Le Monde erhob, nämlich daß Reitz den Krieg idealisiert und den Nazismus trivialisiert. Im Gegenteil, gekonnt entlarvt er die nazistische Idealisierung des Krieges mit den Mitteln des Films: Anton gehört einer Einheit von Kriegsphotographen an, und wir bekommen all die GoeLbels'schen Tricks zu sehen, mit denen Gewalt ästhetisiert wurde. (Anton erinnert sich später, daß in allen Nazi-Filmbericllten die Deutschen von l~nEs nach rechts quer über die Leinwand marschierend gezeigt wurden: voranrückend, selbst im Rückzug.)

Außerdem ist Reitz weit davon entfernt, einreden zu wollen, daß seine ªDurchschnittsdeueschen´ nichts über die Nazi-Verbrechen gewußt hätten. Antons Einheit muß die Massenexekution von Partisanen an der Ostfront filmen. Auf einem Fest in Lucies Villa erzählt Wilfried, der SS-Offizier, stolz einer Gruppe Armeeoffizieren von der Endlösung. In einer früheren Sequenz sehen wir Wilfried kaltblütig einen verwundeten englischen Piloten erschießen, der in den Wäldern nahe Schabbach abgestürzt war. Haben die Dorfhewohner des Hunsrück, bleibt man bei der historischen Wahrheit, mehr als diese flüchtigen Erscheinungen der NaziLarbarei gesehen? Ich glaube nicht. Natürlich hätten sie mehr sehen können, doch wie die meisten Deutschen zogen sie es vor, nicht hinzusehen (wie es Bundespräsident von Weizsäcker in seiner grohartigen Rede vor dem Bundestag zum 4o. Jahrestag des Kriegsendes beschrieben hat). Hier durchbricht Reitz sogar seine eigenen künstlerischen Mittel. Denn er zeigt uns mehr von dem, was seine Dorfhewohner tatsächlich gesehen haben, als sie sich wahrscheinlich selbst erinnern, jemals gesehen zu haben. In dieser Hinsicht ist er gerechter als die Erinnerung.

Dieser Ansatz zur Gerechtigkeit gilt jedoch nicht mehr für seine Darstellung der ersten Nachkriegsperiode, genannt ªDie Amerikaner´. Lucie, die ehemalige Bordellschönheit und Nazianhängerin, prostituiert sich erneut - diesmal mit den amerikanischen Siegern. Ihr Sohn Horst (anzunehmen, daß er nach dem Nazi-Held Horst Wessel genannt wurde) nimmt als erster Kaugummi von schwarzen GIs an. Einige Monate später geht ein großer, gut gekleideter Mann auf der Hauptstraße von Schabbach entlang, gefolgt von einer großen, schwarzen Limousine, gefahren von einem großen, schwarzen Chauffeur. Es ist Paul Simon, Marias Ehemann, der als reicher Amerikaner zurückkommt und sich kaum seiner Muttersprache erinnert. Er ist fett, anmaßend und unglaubwürdig gefühllos. Mit einer amerikanischen Militärkapelle bereitet er sich selbst ein Willkommen im Gemeindesaal (wo Maria früher, in den dreiGiger Jahren, so glücklich mit Otto getanzt hatte). Er wartet mit einem überladenen Tisch voller Lebensmittel aus amerikanischer Militärversorgung auf und hält, für den Fall, daß noch immer nicht alle gemerkt haben, wie gut er es geschafft hat, eine endlose Rede über seinen eigenen Erfolg und die Glorie Amerikas. Der kleine Horst wird von einer delirierenden Lucie gezwungen, die Namen der fünfzig Staaten aufzusagen. Später am Abend betritt Panl Marias Schlafzimmer, angeblich weil es ihm kalt ist, doch offensichtlich in der Erwartung, seine lang verlorene Braut zurückzuerobern. Maria gibt ihm eine Decke. ªIch will nicht, daß du frierst´ sagt sie, ªaber ich will auch nicht, daß du dir Illusionen machst.´ Amerika ist geschlagen. Germania intacta.

In dieser entscheidenden Episode ist die partielle und ungerechte Erinnerung mit Sicherheit die eigene des Regisseurs Reitz. Und höchst überraschend am ganzen Film ist nicht das, was er von der heutigen Haltung der Deutschen gegenüber ihrer Nazivergangenheit zeigt, sondern das, was er über ihre Einstellung zu Amerika enthüllt. Seit der ersten Erwähnung Amerikas, die mir auffiel - eine Bemerkung in einer Radiosendung 1 920 über Amerika ªals Land des elektrischen Stuhls´ -, wird ein abstoßendes Amerikabild vermittelt. Amerika als Antithese zur Heimat. Paul verkörpert das Deutschland, das sich an Amerika verkauft hat, Maria das Deutschland, das sich selbst treu bleibt. Obwohl der Regisseur das wahrscheinlich weit von sich weisen würde, so erkenne ich doch eine Art stillschweigende Folgerung, die da heißt: Nazismus - Modernismus - Amerikanismus. Mit Sicherheit sind dies die drei Elemente, die im krassesten Gegensatz zur authentischen Gemeinschaft des Dorflebens stehen. Als Paul in das Dorf zurückkehrt, läuft er langsam die Straße unter den Telefondrähten entlang - die Drähte, die einst zum Konzentrationslager führten. Nur ein zufälliges Symbol?

In der nächsten Episode, von Igss bis Ig,6, ist weniger Amerika der Feind als elterliche Eifersucht und die restriktive Moral des Adenauer-Deutschlands. So, wie Marias große Liebe zu Otto durch Paul und den Krieg zerstört worden war, so zerstört sie nun die Liebe ihres Sohnes Hermann zum schönen Klärchen. Als die Familie herausfindet, daß Klärchen eine Abtreibung hatte (die 1956 natürlich noch illegal war), droht sie Klärchen mit einer Anzeige bei der Polizei, wenn sie nicht jeglichen Kontakt zu Hermann abbricht. Doch indem Maria diese Liebe zerstört, zerstört sie auch ihre Beziehung zu Hermann. Und wieder einmal findet sie sich mutterseelenallein gelassen.

~ 967 scheint der Bösewicht dann der internationale Kapitalismus zu sein. Ein multinationaler Konzern möchte Antons kleine, hochqualifizierte optische Fabrik kaufen. Anton entscheidet, seinen Vater zu konsultieren. Er findet Paul, inzwischen wirklich eine abstoßende Karikatur des lauten, fetten Amerikaners im Ausland, und findet heraus, daß er seine Firma an IBM verkauft hat. Das genau überzeugt nun Anton davon, nicht zu verkaufen. Hier sind sie also wieder zu finden, die Werte Heimat versus Amerika, diesmal in der Maske des paternalistischen Arbeitgebers. Aber der Film verliert bereits an Uberzeugungskraft, und mit dem Tod von Maria, der die letzte Episode einleitet, gerät er völlig aus den Fugen. In einer schwachen, weitschweifigen, halb-surrealistischen DorffestSequenz endet er damit, daß sich alle Toten im Gemeindesaal versammeln, um den Geist der Mutter Courage zu grüßen.

Weniger wäre mehr gewesen. Reitz hätte sehen müssen, daß es ihn1 nicht gelingen kann, diese letzten beiden Dekaden mit den gewählten künstlerischen Mitteln und seinen eigenen historischen Ansätzen (oder Mythen) zu behandeln. Seine Erinnerung versagt, nicht, weil die Vorgänge zu weit zurück liegen, sondern weil sie noch zu nahe sind. Durch seine grundlegend romantische Sichtweise der Heimat von vor 1945 und seinen tiefempfunclenen Antiamerikanismus ist er nicht in der Lage, die heutige Bundesrepublik mit dem gleichen sympathisierenden Naturalismus zu behandeln, wie er ihn auf die zwanziger und dreifiger Jahre angewandt hat. Hätte er das nämlich getan, wäre es unumgänglich gewesen, zumindest einiges von dem zu zeigen, was dieses neue, entwurzelte, vom Maschinen-Zeitalter geprägte, amerikanisierte Deutschland zum wirklich besseren macht, als es das alte Germania intacta gewesen war. Zum Beispiel, weil es demokratisch ist - ein Punkt nur, der, soweit ich mich erinnern kann, in der ganzen zweiten Hälfte nicht einmal angesprochen wird, außer in jener ausufernden Rede Pauls. Reitz kann Pauls Kindern gegenüber nicht fair sein, denn er ist selbst eines von ihnen.

Auch Shoah ist ein Film über Erinnerung. Erinnerung ist trügerisch. So auch Shoah. Aber die Trugbilder in Shaah sind andere als die in Heimat. Reitz gestattet den Deutschen das Vergessen. Claude Lanzmann fordert jeden auf, sich zu erinnern. Shoah wurde von einem französischen Kritiker als ein ªMonument gegen das Vergessen´ beschrieben. Daneben wirkt Heimat wie ein Monumentfür das Vergessen. Reitz' Position ist bewußt unmoralisch (ªWir versuchen, keine Urteile zu fällen´). Lanzmann ist leidenschaftlich moralisch. ªIch bin zutiefst davon überzeugt´, erklärte er in einem Interview des L'Express, ªdaß es einen Zusammenhang zwischen Kunst und Moral gibt.´ Die Trugbilder Shoabs sind die der Kunst: doch einer Kunst im Dienste der Moral.

Lanzmanns einzigartige künstlerische Leistung ist es, das Leben der Todeslager wiederbelebt zu haben. Das Leben der Toten. Wiederbelebt aus dem Nichts - nein, aus weniger als dem Nichts, aus dem Nichtsein, le neant, wie Lanzmann selbst es genannt hat. Es ist noch nicht einmal die Asche geblieben. Wieder-belebt, nicht einfach nur rekonstruiert. Shoah ist kein Dokumentarfilm. Es gibt darin nichts von den bekannten Schwarz-Weiß-Sequenzen: eine hysterische Masse schreit ªSieg Heil´ - Schnitt - Leichenberge in Bergen-Belsen. Statt dessen sehen wir neuneinhalb Stunden Interviews mit überlebenden jüdischen Opfern, deutschen Tätern und polnischen Augenzeugen (Beobachtern? Zuschauern? - jedes Wort beinhaltet ein Urteil), lange, marternde, erstaunliche Interviews, eines ans andere gefügt und mit Bildern gekoppelt von langsamen, schleppenden Kamerafahrten über die Konzentrationslager, wie sie heute sind, mit Bildern der Eisenbahnschienen, die zu ihnen führen, von den Landschaften um sie herum, wieder von den Schienen, von den Städten, in denen die Uberlebenden heute wohnen, und nochmals von den Schienen. Deuesche, Polen, Juden aller Nationalitäten: Lanzmann fordert sie auf, redet ihnen gut zu und, wenn nötig, drangsaliert sie, damit sie sich jeder Minute und jedes physischen Details ihrer Erfahrungen aus den Vernichtungslagern erinnern. ªEs ist notwendig´, insistiert er, als ein jüdischer Uberlebender zusammenbricht. ªIch bitte Sie. Wir müssen das machen, Sie wissen das.´ ªKönnen Sie diesen Schlauch genauer beschreiben?´ zwingt er den SS-Offizier aus Treblinka. ªWie war er? Wie groß? Wie war es für die Menschen darin?´

[Alle wörtlichen Zitate in diesem Text sind dem deutschen Texthuch zum Film entnommen: Claude Lanzmann, Shoah, München ~y88. Lanzmann schreibt in seiner kurzen Vorbemerkung, das Buch enthalte den ªvollständigen Text, das gesprochene Wort und die Untertitel meines Films´. In Wirklichkeit aber sind, wie auch Lanzmann bemerkt, viele der hier benutzten Worte die deutsche Ubersetzung der französischen Untertitel, basierend auf den (häufig unter ZeitUruck) entstandenen Sir.~ultanübersetzungen in das Französische aus dem Poinischen, Hebräischen oder Jiddischen - Sprachen, die Lanzmann ªnicht beherrscht´. Wie Lanzmann es darstellt, hat ªdie Einfügung der Untertitel in den Film die typographische Gestaltung dieses Buches bestimmt´, aber ªsie sind jedoch nie ganz das gesprochene Wort´. Im Film, schreibt er, ªist der beste Untertitel der, den man vergißt´ . . . und daher ªunerheblich.´ ªVersammelt man sie dagegen in einem Buch, wird aus dem Unwesentlichen piötzlich etwas Wesentliches... gewissermaßen ein Siegel der Ewigkeit´. Ein GroLteil der Kraft dieses Films besteht jedoch gerade aus dem Zusammenprall der Sprachen - dem furchterregenden bürokratischen Euphemismus des Deutschen der Täter gegenüber dem unverstellten Englisch oder Jiddisch der Uberlebenden oder dem deftigen Poinisch der Bauern - all das ist unwiederbringlich verloren in der Ubersetzung.]

Und gegen Ende von Lanzmanns Film hatte ich das Gefühl, daß ich zu wissen beginne, was per definitionem unmöglich zu wissen ist: ªWie es war´ für die Menschen im ªSchlauch´, der in die Gaskammern von Treblinka führte.

Kein anderer Film, den ich über dieses Thema gesehen habe, hat mich derart verfolgt wie Shoah: Bilder und Stimmen kehren zurück, ungefragt und sozusagen unerwünscht, wenn ich in der Nacht aufwache oder mit meinem kleinen Sohn im Park spiele. Einige schriftliche Augenzeugenberichte, einiges in der Literatur war dem sehr nahe gekommen - ich denke an Andre Schwartz-Barts Der letzte der Gerechten oder an die Geschichten von Tadeusz Borowski. [Tadensz Borowski, This Way for the Gas, Ladies and Gentlemen, New York ig67.]' Aber hier entsteht ein ganz besonderer Zwang, der gerade daraus resultiert, daß Shoah kein Buch, sondern ein Film ist. ªIch konnte es nicht weglegen´, heißt das Klischee des Kritikers. Wörtlich genommen kann man Shoah eben ªnicht weglegen´. Man kann nicht auf Seite 43 aufhören, nachdem man die Beschreibung über eine Mutter gelesen hat, die ihr Kind, um es zu retten, vor der Gaskammer verleugnet hat, und in den Garten hinausgehen, um seine Fassung wiederzugewinnen. Außer man verläßt das Kino und verzichtet auf die nächsten 50 Seiten, führt kein Weg daran vorbei, den Film bis zum Ende auszuhalten. Man verliert die Fassung. Man wird durstig. Man ist erschöpft. Vielleicht beginnt man sich sogar zu ärgern, wenn die Kamera einen schon wieder mitnimmt, wie es scheint zum hundertsten Mal, langsam, oh wie langsam, auf die Fahrt über die Schienen bis zur Rampe. Aber diese tödliche Wiederholung, diese Erschöpfung, dieser Zwang zum Aushalten sind wesentliche Bedingungen der Wiederbelebungsversuche Lanzmanns. Bewußt setzt er die diktatorische Macht des Regisseurs ein, um uns in den Viehwaggon einzusperren und neuneinhalb Stunden lang nach Auschwitz zu transportieren.

Lanzmann ist ein überragend selbstbewußter Künstler. Während einer Diskussion, die vom Institut für Polnisch-Jüdische Studien in Oxford nach der Uraufführung des Films in England veranstaltet wurde, analysierte, erklärte und lobte er seine eigene Leistung mit einem obsessiven künstlerischen Selbst-Interesse, das nur noch an Wagner oder Joyce erinnerte. (ªEr ist ein Monster´, war der Kommentar eines I;reundes hinterher, ªein goldenes Monster´.) Lanzmann sprach über seinen Film wie über eine Symphonie, ein architektonisches Kunstwerk, ein Shakespearesches Stück. Gefragt, weshalb er keine Interviews mit diesem oder jenem berühmten Uberlebenden gemacht habe, antwortete er, sie seien ªschwache´ Charaktere, unfähig, die Erfahrung vor der Kamera wahrhaft neu zu erleben, sie hätten nicht in sein Stück gepaft. In diesem Film, fuhr er fort, wird jeder Protagonist zum Schauspieler, er ist ªeine Geschichte der Realität´. Nach seinen Auswahlkriterien befragt, antwortete er: ªDer Film ist um meine eigenen Obsessionen herum gemacht, anders wäre er nicht möglich gewesen.´

ªFilm kann etwas anderes sein als eine Dokumentation´, sagte er. ªEr kann ein Kunstwerk sein - und dennoch akkurat.´ Akkuratesse ist denn auch das zweite außergewöhnliche Charakteristikum seiner Arbeit. Hinter den neuneinhalb Stunden Film liegen dreihundertfünfzig Stunden Filmmaterial und elf Jahre Recherchen rund um den Globus. In Oxford, mit einigen der weltführenden Experten zu Fragen des Judentums und Polens konfrontiert, reagierte er auf jede kritische Frage zu den faktischen Details mit, wie es mir schien, überwältigendem Wissen, und noch etwas anderem: der gerechtfertigten Uberzeugung, daß er etwas getan hat, was keiner der anwesenden Historiker getan hat. Warum er niemanden von den Einsatzgruppen befragt habe - von jenen Spezialtruppen der Nazis für Massenexekutionen? ªEs gibt nur wenige Uberlebende der Einsatztruppen´, antwortete er. Er hatte versucht, sie zu interviewen. Es war sehr schwierig. In einem Fall wurde die Kamera entdeckt, die er in seiner Umhängetasche versteckt hielt (wie er es bei den meisten Interviews mit Nazis getan hatte). ªIch war einen Monat im Krankenhaus. Ich war ernsthaft . . . extrem verprügelt worden. Mein gesamtes Material wurde gestohlen.´

Doch während er erzählte, wurde deutlich, daß seine Auswahlkriterien nicht nur der künstlerischen Wahrheit (ªmeiner Obsession´) folgten, sondern auch der historischen. Er debattierte über seine Interpretation des Langzeit-Zwecks des Holocausts, über die Art des Vernichtungsprozesses, als Historiker mit Historikern. Im großen und ganzen folgt Lanzmanns Interpretation denen Professor Raul Hilbergs, der in Shoah als Schlüsselperson unter den professionellen Zeugen auftritt. Es gab eine ªlogische Ordnung´, sagt Hilberg, ªdenn von den frühesten Zeiten... hatten die christlicllen Missionare zu den Juden gesagt, >ihr könnt unter uns nicht als Juden leben<. Die weltlichen Herrscher, die ihnen vom Spätmittelalter an folgten, entschieden: >ihr dürft unter uns nicht leben<, und die Nazis beschlossen: >ihr dürft nicht leben.<´ Dennoch hatte es keine einzige klare Anordnung gegeben, die besagte, ªjetzt werden die Juden getötet´. Die Endlösung war eher ªeine Folge von kleinen Schritren, die einander in einer logischen Ordnung folgten´, an derem Ziel die ªBürokraten zu Erfindern´ eines ªbürokratischen Vernichtungsprozesses´ wurden, für dessen peinlich genaue Rekonstruktion Hilberg mehr als jeder andere getan hat. [Raul Hilberg,The Destruceion ofthe EuropeanJews, Revised and Delinitive Edition, Holmes and Meier ~98S; Erstseröffentlicllung 1961]. Man kann einiges dieser Interpretation in Frage stellen, wie es Professor Israel Gutman höchst kraftvoll während der Diskussion in Oxford getan hat, aber es gibt keinen Zweifel daran, daß Shoah ein klares und überzeugendes Argument für dieses zentrale Thema liefert.

Zu seinen Ansichten über die polnischen Reaktionen befragt, sagte Lanzmann, ªich glaube, ich habe das wirkliche Polen gezeigt... das verborgene Polen´, und, entschieden, ªnichts von Bedeutung~ über die Polen wurde ausgelassen. Mit dieser letzten Bemerkung bietet er erneut seine Arbeit als Werk eines Historikers der Beurteilung von Historikern an. Denn die Kriterien Ausgewogenheit, Repräsentativität und Vollständigkeit, dieser Anspruch, ªnichts von Bedeutung´ sei ausgelassen, sind grundsätzlich nur von Wichtigkeit für das, womit Historiker sich beschäftigen. Für die Kunst aber bleiben sie peripher. Zu sagen, der Erzähler, Dramatiker oder Maler habe ªetwas Bedeutendes ausgelassen´, ist für gewöhnlich keine Aussage von Belang. (Warum hat Leonardo Mona Lisas Füße ausgelassen?) Zu sagen, der Historiker habe ªetwas Bedeutendes´ ausgelassen, ist hingegen grundsätzlich von Wichtigkeit. Von Historikern erwarten wir zumindest, daß sie die Beweggründe für ihre Auslassungen eindeutig darlegen.

Lanzmann legt demnach an seine eigene Arbeit zwei Maßstäbe an, um nicht zu sagen, einen doppelten Mafstab. Wenn ich hier nun die historische Vollständigkeit des polnischen Teils von Shoah in Frage stellen werde und verdeutlichen will, daß etwas Bedeutendes ausgelassen ist, so werde ich dennoch für zwei Kritikpunkte offen sein: zum ersten, daß die kunstlerische Vollständigkeit des Films weit wichtiger ist als seine historische und daß der polnische Teil sowieso, im historischen Sinne, der weniger wichtige Teil eines Filmes ist, der den Vernichtungsprozeß thematisiert. Zugegeben, seine künstlerische Vollständigkeit ist von größerer Bedeutung. Die fraglos einzigartige Leistung von Shoah ist, daß er uns etwas gibt, was kein anderer Dokumentarfilm uns gegeben hat: Er ermöglicht es, uns das Unvorstellbare vorzustellen, er belebt das Leben der Toten.

Indem er das genaue Gegenteil von Brechts ªVerfremdungseffekt´ benützt, gelingt es Lanzmann, den Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu beseitigen. Und indem er dies tut, ªwollte er dem menschlichen Bewußtsein helfen, niemals zu vergessen, sich niemals an die Perversität des Rassismus' und an dessen monströse zerstörerische Fähigkeit zu gewöhnen´. Diese moralische Skizzierung der Kunst Lanzmanns ist um so treffender, gedenkt man der Person, die sie skizzierte. Ich zitiere Papst Johannes Paul II., der Shoah mit diesen Worten einem Auditorium aus Veteranen des französischen und belgischen Widerstands vorstellte. Ob Lanzmann selbst einverstanden wäre, daß es gerade dies, oder vor allem dies gewesen sei, was er wollte, weiß ich nicht. Aber ich zweifle nicht daran, daß dies einer seiner Erfolge ist. Sein Kunstwerk hat einen großen moralischen Effekt.

Zum zweiten stimme ich zu, daß der polnische Teil historisch zweitrangig ist. Die Polen waren weder die Täter noch die Hauptopfer in den Vernichtungslagern - die Lanzmanns Thema sind. Sie waren nur (nur?) die Zugführer und Weichensteller, die Bauern, die die Felder um die Lager herum bestellten, die Bevölkerung, die den Juden Unterschlupf gewährte, sie ignorierte oder denunzierte. Ein israelischerTeilnehmer an der Diskussion in Oxford verglich im privaten Gespräch die polnische Kritik an der Darstellung der Polen in Shoah mit der jüdischen Kritik an der Darstellung derJuden in Andzrej Wajdas Das gelobte Land: Jede dieser Kritiken, sagte er, verfehlt den wesentlichen Punkt dessen, was der Regisseur, für den die jeweilige Darstellung der Polen oderJuden gänzlich irrelevant und nur Hintergrund, nicht aber das eigentliche Thema war, darzustellen versuchte.

Doch Lanzmann ist offensichtlich selbst vom polnischen Hintergrund fasziniert - tatsächlich läft er ihm mehr Raum im Film, als die strikte historische Bedeutung für sein Hauptthema es vorgeben würde. Zudem fordert er, daß man seine Behandlung des polnischen Hintergrundes mit der gleichen historischen Rigidität beurteile, wie sein Hauptthema. Die politische Kontroverse um Sl~oah betraf denn auch zu großen Teilen die polnischen Sequenzen. Die Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen mag nicht mehr so wichtig für das heutige Judentum sein (mag!), aber ich zweifle nicht daran, daß sie noch immer von lebendiger Bedeutung für die polnische Nation ist: für das eigene Verständnis der Polen von sich selbst. Aus all diesen Gründen finde ich es lohnend, den letzten Teil dieses Essays dem zu widmen, was - ich wiederhole - nicht der bedeutendste Teil des Films ist.

Die heutigen polnischen Reaktionen auf die polnisch-jüdische Frage sind ein einziges Chaos. Dies ist kein Thema, das in klaren Linien Regime, Opposition und Kirche trennt. Nachdem Shoul, in Paris uraufgeführt wurde, war die erste Reaktion der polaischen Regierung, einen offiziellen Protest auf den Quai d'Orsay abzufeuern. Doch gleich darauf kaufte die Regierung den Film, um ihn (teilweise) im Fernsehen und (vollständig) in den Kinos zu zeigen. Es folgten dumme und miserable Arrikel darnber in der offiziellen Presse, zumeist von journalistischen Propagandisten, die ihn nie gesehen hatten, aber auch intelligente Stellungnahmen von Kritikern, die ihn kannten. Beide dieser Kategorien fand man auch in Artikeln der katholischen und der Untergrundpresse.

Die Debatte ist hoffnungslos verzerrt durch den außergewöhnlich hohen Grad, in dem Antisemitismus Thema und Instrument politischer Manipulationen im NachLriegs-Polen geblieben ist. Berüchtigt dafür war das ªantizionistische´ Pogrom von I968, angeführt von Cliquen in Partei und Geheimdienst, das zur Entlassung fast aller verbliebener polnischer Juden von ihren Arbeitsplätzen führte, aber auch die Krisenzeit von 1980 bis 1982, als antisemitische Stimmen erneut in allen Lagern zu hören waren - in Partei, Kirche und Solidarnosc -, wenn sie auch diesmal wirklich marginal blieben. Jeder politisch bewußte Pole, der über dieses Thema schreibt, hat daher eine Stimme in seinem Kopf, die fragt: Welcher politische Nutzen wird aus dem gezogen werden, was ich schreibe? Welche falschen Zitate von mir wird Zolnierz Wolnosci bringen (die Armeezeitung, die eine führende Rolle in der Kampagne von 1968 spielte)? Wem wird das nützen? Und wirklich, ich kann diese Stimme fast selber hören, denn der letzte Essay, den ich für die New York Review of BooLs über Polen schrieb, wurde Thema einer deftigen Attacke in Zolnierz Wolnosci, gezeichnet von einem Oberst (!) W. Zielinski. Doch meine Stimme ist eine Stimme der Selbst-Zensur.

Solche Ängste sind überall und immer der Tod jeder offenen Diskussion. In Polen werden sie aber noch von einem zusätzlichen Komplex genährt. Jeder Pole wird zu dem Bewußtsein erzogen, daß sein Land eines der Opfer der Geschichte ist: das gemeinhin unschuldige und rechtschaffene Opfer des plündernden Nationalismus mächtigerer Nachbarn. Plötzlich wird er mit einer bitteren und tiefgreifenden Anklage seiner Nation durch einen amerikanischen, englischen, französischen oder sogar polnischen Juden konfrontiert - mit einer Anklage, die (wer hätte sie noch nicht gehört?) Polen auf die gleiche Stufe mit Barbie und Mengele stellt. Erzogen, sich als Opfer zu sehen, wird ihm plötzlich gesagt: ªIhr seid die Täter gewesen. ´

Wir erkennen den Nationalismus des Herrschers. Doch es gibe auch einen Nationalismus des Opfers. Der Nationalismus des Opfers ist (oder war zumindest) eine der vielen Gemeinsamkeiten von Polen und Juden. Charakteristisch für den Nationalismus des Opfers ist die widerstrebende Anerkennung des Leidens anderer Volker und die Unfähigkeit ein zugestehen, daß auch ein Opfer quälen kann. Orwell schreibt in Uber den Nationalismus, ªwenn man irgendwo in seinen Gedanken nationalistische Loyalität oder Hafgefühle hegt, werden bestimmte Fakten, selbst wenn sie in gewissem Sinn als wahr erkannt wurden, unerträglich´, und er fährt fort, Beispiele für ªunerträgliche Fakten´ zu nennen, für die verschiedensten Arten von Nationalisten: für britische Torys, Kommunisten, Pazifisten, etc. Ich zitiere je einen ªunerträglichen Fakt´ für polnische und jüdische Nationalisten - und gebrauche das Wort ªNationalist´, ich betone, im eigentümlichen, weitgreifenden, herabsetzenden Sinn Orwells.

Für polnische Nationalzsten: Es gab virulenten und weitverbreiteten Antisemitismus in Polen während des Zweiten Weltkrieges.

Für jüdische Nationalisten: Die Bedingungen der deutschen Besatzung waren für die Polen schlimmer als für jede andere Nation, ausgenommen für Juden.

Für jeden einigermaßen unvoreingenommenen Beobachter, selbst wenn er nur wenige Fakten kennt, sind diese zwei Behauptungen offensichtliche Tatsachen. ªBitte akzeptieren Sie dies als Tatsache´, schrieb der Kommandant der polnischen Untergrund-Heimatarmee (AK) an die polnische Exilregierung in London, im September 194I, ªdaß die überwältigende Mehrheit unseres Landes antisemitisch ist . . . Antisemitismus ist jetzt weitverbreitet. Selbst die Untergrundorganisationen, die im Einflußbereich der Vorkriegs-Aktivisten des demokratischen Clubs oder der Sozialistischen Partei geblieben sind, haben das Postulat der Emigration als Lösung des jüdischen Problems adaptiert. Dies ist ebenso zur Binsenwahrheit geworden, wie zum Beispiel die Notwendigkeit, Deutsche zu eliminieren´. [Zitiert nach Jan Gross' ausgezeichnetesll Buch PolisI7 Soaety under German Occ'`pation, Princeton, NJ, '979, S. 184-185]

Die Besetzung Polens durch die Nazis verlief, wie Jan Gross und Martin Broszat und viele andere ausgiebig doLumentiert haben, unter besonderen und extremen Bedingungen. Churchill hat nicht übertrieben, als er erklärte: ªMontags erschießt Hitler die Holländer, dienstags Norweger, mittwochs stellt er Franzosen oder Belgier an die Wand, donnerstags sind es die Tschechen, die leiden müssen... Aber immer, Tag für Tag... gibt es die Polen.´ Und daher waren, wie Nechama Tec nüchtern in ihrem bemerkenswerten Buch über Christen schrieb, die polnischen Juden Zuflucht gewährten, ªHindernisse und Barrieren für die Rettung von Juden in Polen am gewaltigsten.´ [Nechama Tec, Wenn Licht ins Dunkel tritt Gerechte Christen und die Polnischen Juden]

Diese beiden ªunerträglichen Fakten´ anzuführen, bedeutet nicht, eine Art von Symmetrie oder Äquivalenz herstellen zu wollen. Damit soll nur gesagt sein, daß man, wenn man nicht bereit ist, solche grundlegenden Fakten anzuerkennenund die meisten Menschen, die in den letzten vierzig Jahren über dieses Thema gesprochen oder geschrieben haben, scheinen unfäLig gewesen zu sein, den einen oder anderen dieser Fakten anzuerkennen -, auch nicht beginnen kann, ernsthafte Antworten auf die wirklichen historischen Fragen zu suchen, Fragen wie: Was ist der Zusammenhang, wenn es einen gibt, zwischen der Tatsache des polnischen Antisemitismus der Kriegszeit und der Tatsache, daß deutsche Vernichtungslager in Polen angesiedelt wurden?

Lanzmanns eigene Antwort auf diese zentrale Frage, in Zeitungsinterviews wie auch in der Oxforder Diskussion, blieb konfus. ªSind Sie sich bewußt, daß der Film eine Anblage gegen Polen ist?´ wurde er von L'Express gefragt. ªJa´, antwortete er, ªaber es sind die Polen, die sich selber anklagen. Sie bewältigeen die Routine der Ausro~tung. Niemand fühlte sich gestört davon.´ Während der Diskussion in Oxford sagte er jedoch: ªEs ist keine Anklage... gegen die Polen, denn ich glaube, sie konnten nicht viel tun.´ Aber eine Minute später, er sprach über das polnische Dorf Grabow, um das es auch im Film immer wieder geht, erklärte er: ªEin kleines Dorf wie dieses läß~ einfach die Hälfte seiner Bevölkerung gehen... und wußte absolut sicher, daß man sie vergasen wird, denn jeder wußte es.´ Wer sagt, sie ließen die Juden ªeinfach gehen´,

meint natürlich, sie hätten etwas dagegen tun können. Später erzählt Lanzmann, daß seine gesamte Familie von französischen Bauern während des Krieges gerettet wurde, und er erklärte kategorisch, ªin Frankreich hätte es keine Vernichtungslager geben können´.

Aber vertraue nie dem Künstler, vertraue der Erzählung. Was zeigt uns der Film wirklich? Auf unvergeßliche Weise zeigt er uns lange Ausschnitte von ungewöhnlichen Gesprächen, die Lanzmann in den polnischen Dörfern rund um die ehemaligen Todeslager führte. In diesen Gesprächen beschreiben polnische Bauern, was sie vom Vernichtungsprozeß gesehen hatten, wie sie damals reagierten und was sie heute darnber denken. Ein Bauer erzählt lachend, daß er als junger Mann immer die Eisenbahnwaggons entlang gelaufen sei und sich mit einem Finger quer über die Kehle fuhr, um den Juden klar zu machen, daß sie umgebracht werden. Die ausländischen Juden sind in den Personenwagen gefahren, sagt er, sie waren schön gekleidet, in weißen Hemden... sie spielten Karten. Die ausländischen Juden, oh ja, ªdie waren ganz dick´, wiederholen seine Freunde, ªwir zeigten ihnen, daß man ihnen die Kehle durchscllneiden wird´. Und sie lachen in die Kamera. Doch derselbe Bauer erzählt auch, ªals die Leute dann langsam begriffen, was vor sich ging, waren sie bestürzt, sie haben angefangen, untereinander zu sagen, daß seit Bestehen der Welt noch nie so viele Menschen auf diese Weise ermordet worden waren´. Die Polen fürchteten um ihre eigene Sicherheit. ªFürchteten sie nicht auch für die Juden?´ fragt Lanzmann. ªNaja´, antwortet der Bauer, ªes ist doch so, wenn ich mich in den Finger schneide, tut es dir nicht weh, oder?´

Später treffen wir Bewohner von Grabow, die in den Häusern leben, die einst Juden gehörten. Sie beschreiben, wie die Juden in die Kirche getrieben - in die polnische katholische Kirche - und dann nach Chelmno abtransportiert wurden, nur 12 Kilometer entfernt. Die L)eutschen ~,haben auch so kleine Kinder genommen... Sie nahmen sie an den Beinen und warfen sie auf die Lastwagen. Alte Leute auch´. ªWußten die Polen, daß die Juden in Chelmno vergast würden?´ fragt Lanzmann. ªWußte der Herr das?´ ªJa.´

Dann eine Gruppe alter Frauen. ,>Die jüdischen Frauen waren sehr schön´, sagen sie, ªdie Polen schliefen sehr gern mit den Jüdinnen.´ ªDie Polen liebten die kleinen Jüdinnen, das ist verrückt, daß sie sie geliebt haben.´ Was hat sie so schön gemacht? ªDas war, weil sie nichts taten. Die Polinnen dagegen arbeiteten. Die Jüdinnen machten nichts, sie dachten nur an ihre Schönlleit, zogen sich gut an.´ ªDas Kapital war in den Händen der Juden.´ ªDie gesamte Industrie Polens vor dem Krieg war in den Händen derJuden und der Deutschen. ´ Eine Gruppe Männer. Sincl sie froh, daß keine Juden mehr hier sind? ªDas stört (uns) nicht.´

Die unheimlichste Szene von allen. Eine Gruppe von Dorfbewohnern vor der Kirche in Chelmno. Geräusche von Gebeten und Chorälen. Was wird gefeiert? ªDie Geburt der Jungfrau Maria. Es ist ihr Geburtstag.´ Und während die alten Marienlieder im Hintergnuld ertönen, beschreiben die Dorfbewohner, wie die Juden in eben dieser Kirche zusammengepfercht wurden, wie die Juden in jener Nacht klagten und weinten, bevor die Gaslastwagen kamen, um sie fortzubringen und zu töten. Warum wurde das mit den Juden gemacht? ªWeil sie die Reichsten waren! Auch viele Polen sind umgebracht worden, wirklich! Priester.´

Dann tritt ein selbstbewußt aussehender Mann nach vorne. Ganz offensichtlich fühlt er sich den anderen überlegen, und die anderen scheinen das zu akzeptieren. ªHerr Kantorowski wird berichten, was einer seiner Freunde ihm erzählt hat. Das ganze hat sich in Mindjewyce [Anm.d.Ü.: ªMintljewycc~ ist die Schreibweise im deutschenTextbuch 560.I/J. Ein Or t LliCSCS Nallielis CXiStiC't ill I olell cbclisc!wellig, wic cliesc Art der Scllreibweise im Poinischen moglich ist. Ein weiterer Hinweis auf die lautsprachlichen Ubel-t~-agungsfehiel- >,tmter ZcitUl uck´.] ereignet, in der Nähe von Warschau.´ ªErzählen Sie<<, sagt Lanzmann.

ªDie Juden sind auf einem Platz zusammengetrieben worden. Der Rabbi hat einen SS-Mann gefragt: >Kann ich zu ihnen sprechen?` Der SS-Mann erlaubte es ihm. Also sagte der Rabbi, daß vor fast zweitausend Jahren die Juden den unschuldigen Christus zum Tode verureeilt haben. Und als sie das getan haben, schrien sie: ~Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!< Dann sagte der Rabbi weiter, >vielleicht ist die Zeit dafür gekommen, also wollen wir nichts tun, gehen

wlr<.´

Und als Lanzmann diese phantastische Geschichte anzweifelt, ruft eine alte Frau: ªAls Pontius Pilatus sich die Hände gewaschen hat, sagte er: ,Dieser Mann ist unschuldig, ich will mit dieser Geschichte nichts zu tun haben<, und er hat Barrabas geschickt. Aber die Juden haben gerufen: >Sein Blut komme über uns!< Das ist das Ende, jetzt wissen Sie alles.´

Die Reaktion von einem der angesehensten katholischen Intellektuellen auf all das war symptomatisch und auch schockierend. (Jetzt spricht der Selbst-Zensor in meinem Kopf: ªHier folgt eine Passage, die Zolnierz Wolnosci vielleicht aus dem Zusammenhang gerissen zitieren wird´). Jerzy Turowicz ist Redakteur der führenden katholischen Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny. Turowicz stand früh während der Diskussion in Oxford auf und sagte etwa folgendes: Der Film ist einseitig. Diese Bauern sind einfache, prhnitive Menschen, so wie man sie in jedem Land finden könnte. Viele Polen haben den Juden geholfen. Es gibt 1 500 polnische Bäume in Yad Vashem. Der polnische Katholizismus hat herzlich wenig mir dem polnischen Antisemitismus zu tun und sowieso hat der polnische Antisemitismus nichts mit dem Holocaust zu tun.

Also mit allem gebotenen Respekt vor Herrn Turowicz, aber das kann wohl nicht sein, das kann ganz und gar nicht sein. Diese Reaktion ist purer ªNationalismus´, im besonderen Sinne Orwells, den ich hier verwende. Lanzmanns Bericht über den katholischen Antisemitismus der polnischen Bauern ist eine Herausforderung und implizit ein Verweis an die polnischen katholischen Intellektuellen. Tatsächlich sagt dieser Bericht: Um Gottes Willen, hier ist ein Problem, ein unverarbeitetes, blutiges, schreckliches Problem, und warum hat es vierzig Jahre und meine Provokation gebraucht, bis ihr es an tastet? Und alles, was Herr Turowicz dazu zu sagen hatte, war: wir sehen kein Problem. [Fairerweise muß gesagt werden, daß Turowicz in den Jahren seit der Ersive'-öffentlichung dieses Essays seine Position bedeutend weiterentwikkelt und revidiert hat. In Tygodnik Powszechny hat er eine tiefgehende, offene und sensible Diskussion uber dieses Thema ermöglicht, besonders erwäh nenswert darunter ein Artikel des hervorragenden poinischen Lileraturkrilikers Jan Blonski].

Ist Lanzmanns Darstellung dieses Problems in seinem Film unfair? Ja und nein. Nein, in dem Sinne, daß alles, was er zeigt, ganz offensichtlich die Wahrheit ist. Diese Menschen existieren. Sie haben diese Dinge gesagt. Mit Sicherheit ist seine Art zu fragen aggressiv und zornig. ªSie sind reich geworden´, sagt er über ein Paar aus Grab6w, das in eines der jüdischen Häuser gezogen ist: Aber was heißt das, ein Holzhaus in einem armen Bauerndorf in einer der rückständigsten Ekken Europas. Reich! Lanzmann ist ganz augenscheinlich schockiert und fasziniert zugleich, daß er tatsächlich selbst mit wirklichen, lebendigen christlichen Antisemiten spricht, die fast einem SchulLuch über Antisemitismus entsprungen sein könnten (ein Schulbuch, das es nicht nur in Polen geben sollte). Aber er unternimmt nicht die geringste Anstrengung, die menschlichen, allzu menschlichen Verstrickungen in ihre richtige Ordnung zu fügen, diese bizarre Mischung aus Aberglauben und bodenständigem Menschenverstand in dieser bäuerlichen Welt. Der Jude stank, sagt ein Bauer. Warum? fragt Lanzmann, und wir erwarten eine ideologische Antwort. ªWeil sie Gerber waren, und die Felle stanken.´ Eine alte Frau sagt, daß es ihr heute besser gehe als damals. ªWeil die Juden verschwunden sind oder wegen des Sozialismus´? fragt Lanzmann. Nein, weil sie vor dem Krieg Kartoffeln roden mußte und heute einen Eierhandel hat.

Er zeigt uns ihre Gefühllosigkeit, aber auch ihr Mitgefühl. Ein ledergesichtiger alter Eisenbahner bricht in Tränen aus, als ersich an die Erschießung einer jüdischen Mutter und ihres Kindes erinnert. ªMitten durch das Herz geschossen. Die Mutter erschossen. Dieser Herr (erklärt die Dolmetscherin) hat eine lange Zeit gelebt. Er kann es nicht vergessen.´ Mutter und Kind, das zentrale Bild des polnischen Katholizismus: Maria und Jesus (eine jüdische Mutter mit Kind). Diese ªprimitiven´ Polen sind um so vieles menschlicher als die ªzivilisiereen´ Deutschen, die sich niemals vorstellen könnten, bei laufender Kamera über die Todeslager zu lachen - man weiß, das schickt sich nicht.

Schließlich entwickelte offenbar Lanzmann selbst, fast trotz seiner selbst, eine Art Zuneigung für ªeinfache´ Polen, wie den kleinen Zugführer Pan Gawkowski, der tatsächlich die Transporte bis nach Treblinka hinein gefahren hat, eine Zuneigung, die niemand auch nur annähernd vorstellbar für die ªzivilisierten´ Deutschen entwickeln könnte, für jenen unsäglichen Herrn Stier zum Beispiel, ehemaliger Chef des Büros 3 3 der Deutschen Reichsbahn, der hauptsächlich damit beschäftigt war, diesen ªSonderzugverkehr´ von weither zu organisieren, und der noch immer insistiert, er hätte ªkeine Ahnung gehabt´ von ihrer Bestimmung: ªWie heißt das Lager noch in... das lag in dem Bezirk Oppeln? Na, Auschwitz! ´

In diesen Zusammenhängen gesehen ist der polnische Teil von Shoah nicht nur profund und bewegend, sondern auch fair und wahrheitsgetreu. Dennoch ist seine Wahrheit nicht die vollständige historische Wahrheit, auf die Lanzmann Anspruch erhebt, wenn er sagt ªnichts von Bedeutung, was die Polen betrifft, wurde ausgelassen´. Grundlegende Aspekte der polnisch-jüdischen Beziehungen sind ausgelassen, wie in der nüchternen und genauen Darstellung in Nechama Tecs Buch festzustellen ist, in dem sie die Fälle und historischen Fakten von mehr als fünfhundert Polen untersucht, die Juden geholfen haben. Shoah zeigt keine Beispiele für Polen, die Juden Unterschlupf gewährten, wenn der Film auch ein erschütterndes Interview mit Jan Karski zeigt, Kurier der polnischen Exilregierung, der vergeblich die Regierungen dieser Welt darüber aufzuklären versuchte, was den Juden in Polen geschah.

Tec kommt zu der Uberzeugung, daß man als einzig sicllere soziologische Verallgemeinerung über Menschen, die Juden geholfen haben, sagen kann, daß Bauern zu der Schicht gehörten, in der dies am wenigsten wahrscheinlich war. In Shoah sieht man fast ausnahmslos Bauern. In den wenigen Fällen, in denen Polen über die Strafen sprachen, die ihnen drohten, wenn sie Juden geholfen hätten, scheint Lanzmann seine Zweifel durch die Art der Befragung und Zwischenschnitte auszudrücken. In Tecs Buch finden wir zum Beispiel die Reprodukeion eines deutschen Aushangs, in dem die Verhängung der Todesstrafe über 55 Polen einer Region (Galizien) verkündee wird, an einem einzigen Tag im Dezember I943, darunter für acht wegen des Verbrechens der Judenbeherbergung.

Ganz am Ende des Films beschreibt ein Uberlebender des Aufstandes im Warschauer Ghetto, wie er aus dem Ghetto durch einen Tunnel in das ªarische´ Warschau floh, wo er zu seiner Bestürzung herausfand, daß das ªLeben so natürlich und normal wie zuvor´ verlief. ªDie Cafes waren wie üblich geöffnet, die Restaurants, Busse, Straßenbahnen und die Kinos waren in Betrieb.´ ªDas Ghetto´, schloß er, ªwar eine einsame Insel inmitten des normalen Lebens.´ Lanzmann begleitet dies mit einer langen filmischen Sequenz des heutigen Warschaus. Natürlich kann es sein, meinte Leszek Kolakowski während der Diskussion in Oxford, daß Warschau 1943 für jemanden, der gerade aus der unbeschreiblichen Hölle des Ghettos entkommen ise, ªnormal´ ausgesehen hat. Aber die polnische Hauptstadt in der deutschen Besatzungszeit war mit Sicherheit nicht in dem Sinne ªnormal´, wie es das heutige Warschau ist. Es war eine Stadt, die im Terror lebte.

Das erwähnt Lanzmann nicht. Aber er erwähnt auch niche das Karussell, nur ein Stück von der Ghettomauer entfernt, im ´arischen´ \Varschau, das Karussell, das sogar dann noch lief, als das Ghetto brannte, als sich die Gewehrschüsse des letzten verzweifelten Kampfes im Ghetto mit der Rummelplatzmusik mischten und ªder Wind aus den brennenden Häusern / lüpfte die Röcke der Mädchen´ - wie Czeslaw Milosz es in seinem großen Gedicht Campo di Fiori beschreibt. Er erwähnt auch nicht, was manche Menschen im ªarischen´ War schau sprachen, wie Kazimierz Brandys sich unvergeßlich in seinem Warschauer Tagebuch erinnerte: ªDie nette Frau, die mein Fleisch im Metzgerladen abwog, sagte, daß Hitler Polen von den Juden entseucht hat (das Warschauer Ghetto stand zu dieser Zeit noch immer in Flammen). ´ Er er~vähnt auch nicht die kriminellen Polen, die Juden erpreßten (die sz~nalcownicy), oder die Rolle der polnischen Vorkriegspolizei (die sogenannte granatowa policja), die mithalf, die Juden aufzutreiben. Ist das alles nicht auch ªvon Bedeutung´?

Der wesentliche Punkt ist, daß Shoah kein ebenso überzeugendes historisches Argument zu Polen und dem Holocaust liefert, wie es ein eindeutiges historisches Argument zum Vernichtungsprozeß bietet. Wie wir gesehen haben, sind Lanzmanns eigene Aussagen, die er außerhalb des Films über den Zusammenhang zwischen dem polnischen Antisemitismus der Kriegszeit und der Existenz der Todeslager auf polnischem Grund und Boden gemacht hat, reichlich konfus. Im Film wiederum gibt es keine zusammenhängende Aussage, kein historisches Argument hierzu. Auch gibt es zu diesem Thema keine professionelle Schlüsselfigur, so wie Hilberg für das Hauptthema. (Vielleicht auch deshalb, weil es keinen Hilberg für polnisch-jüdische Beziehungen im Zweiten Weltkrieg gibt.) Ich sage das in keiner Weise, um die Leistung Lanzmanns in Frage zu stellen, nur, um sie zu definieren. Gerade so, wie er ist - lebendig, persönlich, unvollkommen und partiell -, sollte dieser Film im Film über die polnische Rolle obligatorisch für alle Polen sein. Es wäre zu hoffen, daß gerade seine Unvollkommenheit und Unvollständigkeit polnische Intellektuelle aus der Reserve locken würden und, allem voran, polnische Historiker, um eine ernsthafte Forschung über das Gesamtthema zu beginnen - damit es für den nächsten Film vielleicht einen polnischen Hilberg als Gesprächspartner gibt.

Mit dem Segen der Jarozelski-Regierung, und sogar ihrer Ermutigung für polnisch-jüdische Studien in Polen (ein politischer Fakt, den man willkommen heißen muß, was auch immer die Motive daLinter sein mögen), und - ebenso bedeutend - mit dem Segen des Papstes, scheinen die äußeren Bedingungen für ein derartiges intellektuelles und moralisches Unternehmen günstiger (oder zumindest weniger ungünstig) als zu jeder anderen Zeit seit Ig45. Aber leider ist es noch immer gut vorstellbar, daß gerade dadurch ein gegenteiliger Effekt erzielt wird: ein weiterer unproduktiver, bitterer Zusammenprall intellektuellen Nationalismus'- der (polnische) Nationalismus des Opfers mit dem (jüdischen) Nationalismus des Opfers.

Shoah ist so eindeutig ein größerer Film als Heimat- komplexer, schwieriger, profunder und bedeutender -, daß man sich fragt, ob es überhaupt Sinn macht, sie derart nebeneinandergestellt zu besprechen. Im Rückblick aber bin ich der Meinung, daß der springende Punkt gerade im eindeutigen Qualitätsunterschied liegt. Wieso ist Reitz' Film über die deutsche Erinnerung so viel ªeinfacher´, leichter, oberflächlicher als Lanzmanus Film über die jüdische und die polnische Erinnerung? Nicht, weil Reitz ein schlechterer Regisseur wäre, sondern weil die deutsche Erinnerung an diese Zeit in sich sell~st ªeinfacher´ ist. Natürlich meine ich hier nicht die Erinnerung jener historisch sensiblen und moralisch besorgten Deutschen, die dazu beigetragen haben, die öffentliche Haltung der Bundesrepublik gegenüber der Nazivergangenheit zu formen, und die seit einigen Jahren einen so vorzüglichen Sprecher in ihrem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker haben. Ich meine die allgemeine und private Erinnerung der meisten Durchscllnittsbürger in Westdeutschland, die Reitz' Thema ist. Schließlich, indem wir die beiden Filme vergleichen, entdecken wir die letzte monströse Ungerechtigkeit: Es sind die Opfer, nicht die Täter, die am meisten an ihren Erinnerungen leiden. Es sind die Opfer, die zusammenbrechen, während die Täter in den glücklichen Erinnerungen an die Heimat schwelgen.

Beide Filme zusammen ermahnen uns: Erinnerung ist trügerisch. Erinnerung ist unmoralisch. Erinnern ist auch Vergessen. Es gibt Tatsachen, denen Erinnerung nicht ins Auge blicken kann. Wenn deutsche, jüdische und polnische Uberlebende den genau gleichen Vorgang zu erinnern versuchen, so können sie sich dennoch nicht an das gleiche erinnern - fast physisch können sie es nicht, so wie ein Gelähmter nicht gehen kann. Und beide Filme zusammen sagen: Nimm dich in Acht vor der Tyrannei des Regisseurs. Denn beide, Shoah wie Heimat, sind grundlegend von der Einstellung und der jeweils eigenen Biographie ihrer Regisseure geformt und gebogen. Reitz' Amerika, Lanzmanns Polen - auch sie sind Produkte, jene unvermeidlich entstellten Produkee der Erinnerung eines Individuums.

Die Schluffolgerung, zu der beide mich führen, ist: Gott sei Dank gibt es die Historiker! Nur die professionellen Historiker, mit ihren erprobten Methoden der Forschung, ihren expliziten Auswahlprinzipien und ihrer Bindung an Fakten, nur sie können uns die Mittel geben, um den Dingen ins Auge blicken zu können. Nur die Historiker geben uns die Richtwerte, mit denen wir Heimat oder Shoah beurteilen und ªrichtig einschätzen´ können. Nicht, daß Historiker notwendigerweise unvoreingenommener wären als Filmregisseure. Aber der Historiker ist (zumindest in einer freien Gesellschaft) für seine Thesen verantwortlich zu machen und der öffentlichen Kritik wie der Kritik seiner Zunft ausgesetzt, wie jeder Politiker in einer Demokratie. Ein Filmregisseur hingegen ist immer, allein schon durch die Art seines Mediums, ein großer Diktator. Also sind die Historiker unsere Beschntzer. Sie schützen uns vor dem Vergessen - das ist eine Binsenwahrheit. Aber sie schützen uns auch vor der Erinnerung.