Gespräch
Es geht um Geschichte
Edgar Reitz über die geplante Fortsetzung seines "Heimat"-Projektes
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Reitz: Und wie! Nur zu genau. Ich hatte 1978 meinen bis dahin weitaus teuersten Film herausgebracht, in den ich als Produzent auch entschieden mehr eigenes Geld als je zuvor in einen Film gesteckt hatte, "Der Schneider von Ulm", und er erlitt in den Kinos einen furchtbaren Absturz. Auch der "Spiegel" trug durch einen scharfen Verriß seinen Teil dazu bei. Ich war mit meiner Arbeit an einem Tiefpunkt wie nie zuvor angekommen.
Spezial: Was kosteten damals Produktionen dieser Art?
Reitz: Drei bis vier Millionen. Jedenfalls war ich so pleite, daß ich froh über das Angebot von Freunden war, das Jahresende in ihrem Ferienhaus auf Sylt zu verbringen. Dort hatte ich unendlich viel Zeit, über mein Fiasko nachzudenken. Ich fragte mich: Warum bin ich, ausgerechnet ich, Enkel eines Hunsrücker Bauern, Sohn eines Hunsrücker Handwerkers, nicht in der Heimat geblieben, sondern hinaus in die Fremde gezogen und habe diesen Beruf als Filmemacher ergriffen, der mir immer wieder nur Unglück bringt? Das war mir doch nicht in die Wiege gelegt. Ich begab mich tiefer und tiefer in die Geschichte meiner Familie hinein, als müßte ich bis zum Ursprung meines Unglücks vorstoßen, und irgendwann begann ich, das alles aufzuschreiben. Ich schrieb und schrieb dort auf Sylt und konnte nicht mehr aufhören, während es draußen schneite und schneite.
Spezial: So hat der Hunsrück Sie aus Ihrer Verzweiflung gerettet?
Reitz: Es war dieser Wahnsinnswinter 1978/79, als ganz Schleswig-Holstein so tief im Schnee versank, daß nur die Bundeswehr die Verbindung zu manchen Ortschaften freiräumen konnte. Aber mich kümmerte nicht, daß ich eingeschneit war, denn ich war versunken in meiner Hunsrück-Welt. Ich blieb bis Anfang Februar auf Sylt, dann fuhr ich von dort mit der Bahn - denn wegen der Filmpleite hatte ich nicht einmal mehr ein Auto - nach Berlin zu den Filmfestspielen. Ich traf einen alten Freund vom WDR, der mich fragte: Wie geht's denn so?, und ich antwortete: Ich habe unter meinem Elternhaus eine Ölquelle entdeckt!
Spezial: Er muß gedacht haben, nun hätten Sie den Verstand verloren.
Reitz: So hat er es nicht ausgedrückt. Er ist der Produzent der "Heimat" geworden, und später der "Zweiten Heimat", Joachim von Mengershausen. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich von Kollegen höre, wie schwer sie sich tun, einen Filmstoff zu finden oder an einen Stoff zu glauben. Dieses Problem hatte ich nie mehr seit dem Tag, an dem ich meine Quelle entdeckte. Im Gegenteil, mir scheint, ich hätte bisher nur einen Zipfel dessen erzählt, was sich da geöffnet hat. Ich könnte immer weiter erzählen und würde nie fürchten, daß mir mein Stoff ausgeht.
Spezial: Ist diese Einengung aufs Autobiographische nicht auch bedenklich?
Reitz: Überhaupt nicht. Es geht um etwas Grundsätzlicheres. Es geht um die Frage, ob eine Geschichte eine Art Lebendigkeit, eine Art Wahrheit in sich hat oder nicht. Ob sie Substanz hat. Das muß man spüren. Ich bin nicht überzeugt davon, daß all die cleveren Drehbuchdoktoren, die heute an den Filmhochschulen über Erzähltricks und Kunstgriffe dozieren, einen noch unsicheren jungen Menschen auf den richtigen Weg bringen. Die meisten Studenten werden durch solche Wirkungsrezepte nur von sich selbst weggeführt. Wer ein Empfinden dafür hat, merkt einfach, wenn eine Geschichte konstruiert ist, auch wenn geschickt an den Details herumgedoktert wurde, um sie lebendig erscheinen zu lassen. Eine andere Geschichte hingegen lebt einfach aus sich heraus, mühelos, weil sie ihr Leben in sich hat. Die richtige Erzählkunst kommt zutiefst aus den Wurzeln der eigenen Person. Aber ich gebe zu, auch ich bin manchen Irrweg gegangen, bis mir das bewußt wurde.
Spezial: Seit ein paar Jahren stecken Sie, wie man hört, in den Vorbereitungen zu einem dritten "Heimat"-Teil, und in einem Interview haben Sie erklärt, vielleicht würde daraus kein Filmzyklus mit dem Fernsehen als primärem Verbreitungsmedium, sondern ein Endlos-Erzählprojekt mit dem Internet als öffentlichem Forum. War das nur ein Gedankenspiel oder doch mehr?
Reitz: Es war mehr. Die hochtrabenden Träume, die man damals hatte! Vor zwei oder drei Jahren blühte ja eine wahre Philosophie des digitalen Zeitalters, es gab originelle Leute, die meinten, man könne und müsse von heute auf morgen die ganze Welt neu erfinden. Mich hat das eine Zeitlang sehr fasziniert, aber jedem, der sich intensiv damit beschäftigt, ist inzwischen klar, daß sich diese Dinge doch viel langsamer entwickeln, als es anfänglich schien. Und vor allem: Daß der Mensch sich nicht so rasch verändert. Das Internet wird noch lange kein Veröffentlichungsmedium für Schriftsteller oder Filmemacher sein.
Spezial: Ist denn nicht der Aufbau einer Einrichtung im Gang, die sich Heimat-Net nennt?
Reitz: Richtig. Das liegt in einer zwangsläufigen Entwicklung. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Zuschauerbriefe ich nach der "Heimat" und noch viel mehr nach der "Zweiten Heimat" in den Jahren 1993 bis 1995 bekommen habe. Es war zum Verzweifeln. Da man ein freundlicher Mensch sein möchte, versucht man anfangs, jeden Brief zu beantworten, aber irgendwann merkt man, daß das nicht nur Zeit kostet, sondern auch ins Geld geht. Wer zahlt denn das Porto für 15000 Briefe? Da schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen. Manche Briefschreiber wollten präzise Antworten, zum Beispiel ein Oldtimer-Auto betreffend, das im Film vorkam, oder ein Kostüm oder eine sprachliche Eigenheit. Andere wieder erzählten mir, durch "Heimat" angeregt, ganze Familiengeschichten, vielleicht sogar mit der Hoffnung, ich könnte daraus nun auch einen Film machen. In den letzten Wochen ist wieder eine solche Welle von Briefen auf mich zugekommen - aus Argentinien, weil dort die "Zweite Heimat" wiederaufgeführt worden ist.
Spezial: Sind solche Briefschreiber aus fernen Ländern hauptsächlich Menschen deutscher Herkunft?
Reitz: Bei der ersten "Heimat" war das naturgemäß der Fall. Das zentrale Thema der "Zweiten Heimat" hingegen ist ja nicht spezifisch deutsch, es geht ums Jungsein, um die Suche danach, was das richtige Leben sei, um die Frage nach der eigenen Genialität. In Deutschland war ja die Resonanz auf die "Zweite Heimat" schwächer als auf die erste ...
Spezial: Offenbar zeigte sich plötzlich, wie sehr die Gewohnheiten des Fernsehpublikums sich im Lauf dieses Jahrzehnts durch den Auftritt der Privatsender verändert hatten.
Reitz: Bestimmt. Aber bestimmt waren viele Zuschauer auch einfach enttäuscht, weil es nicht nochmal dasselbe und also auch nicht so heimatlich, nicht so spezifisch deutsch war. Genau deshalb aber, so denke ich heute, hatte die "Zweite Heimat" überall im Ausland einen deutlich größeren Erfolg als die erste. Mein guter Wille, Briefe zu beantworten, war erschöpft, als ich sie gar nicht mehr lesen konnte, französische, englische, spanische, manche mit Fotos, manche ein Dutzend oder auch hundert Seiten lang.
Spezial: Um Himmels willen, was macht man damit?
Reitz: Genau dafür ist, nach wie vor, das Internet eine wunderbare Erfindung. Es ist ein internationales Forum zum Austausch solcher Materialien. Das habe ich selbst erst begriffen, als ich von Websides erfuhr, auf denen mir unbekannte Enthusiasten Material zur "Heimat" und zur "Zweiten Heimat" zusammentrugen: eine niederländische Gruppe zum Beispiel, die einen Server der Universität Utrecht benutzt, oder eine kanadische Community, die auf ganz eigentümliche und ästhetisch reizvolle Art Standbilder aus der "Heimat" grafisch bearbeitet.
Spezial: Kurz gesagt, was früher die Fan-Clubs waren, tummelt sich jetzt im Internet?
Reitz: So ungefähr. Und zur Verknüpfung und Bündelung all dieser Aktivitäten bauen wir nun das Heimat-Net auf. Dazu soll eine Datenbank gehören, die allfällige Fragen zu einem Kostüm oder einem Oldtimer beantwortet, dazu soll zeitgeschichtliches Material gehören, das sich auf meine Hunsrücker Heimat bezieht, und natürlich wollen wir allem, was sich, angeregt durch "Heimat", an erzählenden Briefen oder autobiographisches Berichten angesammelt hat, da eine Form der Veröffentlichung geben. Vor allem aber soll das immer weiterwachsen und jedermann für eigene Beiträge offenstehen.
Spezial: Sie sagen "wir". Wer ist "wir"?
Reitz: Treibende Kraft ist die Berliner Firma Mediacube, die mir aufgefallen ist durch ihr Online-Begleitprogramm zur letzten Kasseler Documenta. Mit diesen Leuten habe ich mich zusammengetan. Ich bringe mein ganzes Material in die Unternehmung ein, dazu natürlich meine Neugier und meine Erfahrung, und die Mediacube-Leute kümmern sich um die Technik, um das Administrative und vor allem auch um die Finanzierung. Sie haben es geschafft, die Expo in Hannover als Sponsor zu gewinnen: Dort wird das Heimat-Net seine offizielle Weltpremiere haben.
Spezial: Kann sich ein solches Projekt denn optisch attraktiv präsentieren?
Reitz: Da habe ich großes Vertrauen.
Natürlich darf das nicht die starre, schematische Struktur einer Aktenablage im Büro oder einer normalen Computer-Datei haben, sondern muß einladend wirken. Deshalb haben wir uns als grafische Grundgliederung drei sehr deutsche, sehr heimatliche Bäume ausgedacht: Tanne, Linde und Eiche. Die Tanne steht für den Weihnachtsbaum und also für den Themenbereich von Heim und Familie, die Linde repräsentiert den Dorfplatz und damit die konkrete, überschaubare Nachbarschaft, die Gemeinde, und die Eiche stellt natürlich die übergeordneten Prinzipien dar, Recht, Ordnung, Staat. Jeder, der etwas zum Heimat-Net beiträgt - einen Brief, ein Bild, einen Bericht -, läßt an dem entsprechenden Baum einen neuen Zweig wachsen. Wer immer mal wieder zu Besuch kommt, kann sehen, wie die Bäume wachsen.
Spezial: Kann man sich jetzt schon in dieses Heimat-Net einklinken?
Reitz: Die Bäume sind noch nicht gepflanzt. Aber es gibt natürlich die Webside mit der Adresse www.heimat.net, und da erfährt man immer, wie weit die Dinge gediehen sind.
Spezial: Wenn Sie Ihr "Heimat"-Erzählwerk mit einem dritten Teil fortsetzen, wird das also kein Internet-Projekt sein, sondern die vertraute und bewährte Form haben - als Filmzyklus fürs Fernsehen?
Reitz: So sieht es im Augenblick aus. Es gibt sieben Drehbücher für sieben Spielfilme üblicher Art, also von 100 bis 120 Minuten Länge. Allerdings könnte ich mir auch vorstellen, den Stoff in eine größere Zahl kürzerer Episoden zu gliedern. Darüber wird zu reden sein, wenn sich entscheidet, wie und mit wem das Ganze produziert wird.
Spezial: Wie sind Sie an Ihren Co-Autor, den Ost-Berliner Thomas Brussig, gekommen?
Reitz: Ich habe vor ein paar Jahren an der Filmhochschule in Babelsberg unterrichtet, und da war er mein Schüler. Daß er bereits durch den Roman "Helden wie wir" berühmt geworden war, hatte ich gar nicht gewußt. Er liebte die "Zweite Heimat" und war sofort bereit, an den neuen Hunsrück-Geschichten mitzuschreiben.
Spezial: Soll dieser neue Zyklus nun "Heimat 3" oder "Heimat 2000" heißen?
Reitz: "Heimat 2000" hieß das Projekt in einer frühen Ankündigung, doch ist mir dieser Titel inzwischen unbehaglich. Das ist schon zu nah, und nach der großen Silvesternachtsfete wird uns schnell genug die ganze alte Normalität wieder einholen. Nach dem Geschwindigkeitstaumel kehrt Ruhe zurück.
Spezial: Aber die Silvesternachtsfete soll den Schlußpunkt dieser neuen "Heimat"-Chronik setzen?
Reitz: Die Spanne geht von der deutschen Wende, also dem Herbst 1989, bis zur Jahrtausendwende. Das Merkwürdige ist: Ich für mich habe die deutsche Wende erst mit Verspätung wahrgenommen, denn ich steckte Ende 1989 bis über den Kopf in den Dreharbeiten zur "Zweiten Heimat", also in den sechziger Jahren, und war in gewissem Sinne blind für die Gegenwart. Am wichtigsten für mich war, als die Mauer fiel: Jetzt endlich konnte ich bestimmte Szenen drehen, deren Realisierung ich aus Ratlosigkeit vor mir hergeschoben hatte - sie spielten auf der Transitautobahn zwischen München und Berlin. Als ich dann aber im Jahr 1994 um die halbe Welt unterwegs war, zu den Premieren der "Zweiten Heimat" in den verschiedensten Ländern, da wurde ich dauernd gefragt: Wie fühlt man sich denn nun in Deutschland nach dem Fall der Mauer? Und erst da begann ich mich das selber ernsthaft zu fragen.
Spezial: Ist es nicht abwegig, wenn das Ziel eine Chronik des Vereinigungs-Jahrzehnts sein soll, den abgeschiedenen, ganz am Rand der alten wie der neuen Bundesrepublik liegenden Hunsrück zum Hauptschauplatz zu machen?
Reitz: Oh, auch die Menschen aus dem Hunsrück sind nicht mehr so immobil, wie Sie vielleicht denken. Als ich zum allerersten Mal nach der Wende durch die DDR fuhr, traf ich an einer Autobahnraststätte einen ganzen Bus voll Hunsrücker - sie waren unterwegs nach St. Petersburg. Ein Beispiel: Die erste Wende-Geschichte, die ich im Film erzählen will, handelt von den ersten Ossis, die Ende 1989 im Hunsrück auftauchen, drei Bauarbeiter, die sich dort ihre ersten paar West-Mark verdienen wollen. An ihrer Berechtigung zum Arbeiten bestand kein Zweifel, doch sie hatten keine Lohnsteuerkarte oder dergleichen und also einen Status von merkwürdiger Irregularität, folglich wurden sie von den Einheimischen so mißtrauisch wie Schwarzarbeiter beäugt.
All diese Umstände hat man ganz rasch wieder vergessen, das macht sie erzählerisch reizvoll, und nicht nur als Komödienstoff. Stellen Sie sich drei Ossis zum ersten Mal in einem westdeutschen Baumarkt vor - darüber könnte man sich heute kaputtlachen, und nicht nur im Osten, wo es ja längst mehr Baumärkte als bei uns gibt. Oder denken Sie an den Sommer 1990, an den Triumph, als Deutschland die Fußball-Weltmeisterschaft gewann. Diesen intensivsten Augenblick deutscher Zusammengehörigkeit will eine der "Heimat"-Episoden noch einmal heraufbeschwören, denn dieses Gefühl hat sich ja leider längst verflüchtigt.
Spezial: Das klingt alles etwas leichtgewichtig. Daß im Hunsrück der Mittelpunkt der Welt liege, wird man wohl doch nicht mehr behaupten können.
Reitz: Sie kennen Hahn nicht, die amerikanische Air-Force-Basis, wo sich vermutlich der größte Vorrat an Atomwaffen in ganz Westeuropa befand. Jahrzehntelang war Hahn für die Hunsrücker ein riesiges, streng bewachtes Stück Terra incognita mitten in ihrer Heimat, das man weiträumig umfahren mußte, und ein Biotop sehr eigener Art, weil dort ja nie Landwirtschaft betrieben wurde. Man muß von den Amerikanern als einem wesentlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsfaktor für die Gegend erzählen, denn das hat noch nie jemand getan. Tausende von Hunsrükkern waren als Zivilangestellte bei ihnen beschäftigt, und für Tausende von Amerikanern hat man in den Dörfern Häuser und ganze Siedlungen gebaut. Es sind Amerikanismen in den regionalen Dialekt eingegangen, und es gab Amerikaner, die Hunsrücker Platt so waschecht wie irgendein Bauer sprachen. Und dann, eines Tages, waren sie alle alle weg.
Spezial: Das klingt nach einer melancholischen Depressionsgeschichte. Und dann?
Reitz: Dann erwies sich wieder einmal, daß die Hunsrücker ihre Heimat zu Recht für die Mitte der Welt halten: Im Kleinen spiegelt sich da der Kollaps der großen weltpolitischen Fronten, denn in diesen Siedlungen, wo jahrzehntelang eigentlich nur amerikanisch gesprochen wurde, hört man nun hauptsächlich russisch. Die sogenannten Russland-Deutschen, die von der Kohl-Regierung zur Rückkehr in die alte Heimat eingeladen wurden, sind ja inzwischen in großen Strömen gekommen, hauptsächlich aus Kirgisien oder Kasachstan, und auf der Suche nach Wohnraum für sie boten sich zwangsläufig die Quartiere rund um die Airbase Hahn an, die von den Amerikanern geräumt wurden. Diese Ablösung geschah Zug um Zug, und inzwischen leben angeblich an die 100000 deutschstämmige Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion im Hunsrück.
Spezial: Ist das für die nun die alte Heimat? Oder die neue Heimat?
Reitz: Natürlich sprechen nur die Älteren deutsch, oft rudimentär und in Dialekten, die wir gar nicht mehr kennen, und oft gilt nur der eine Elternteil als deutsch, deshalb herrscht auch in den Familien russisch vor. Aber ich bin sicher, daß sie Deutschland als ihre Heimat betrachten, und keinesfalls etwa Kasachstan, denn sie haben einen so hohen, so verinnerlichten und verabsolutierten, geradezu religiösen Begriff von Deutschtum, wie man sich das hierzulande längst nicht mehr vorstellen kann. Preußisch. Wilhelminisch. Natürlich gehören die meisten auch zu sehr rigiden, also sehr konservativen Religionsgemeinschaften.
Spezial: Steckt darin Sprengstoff im Umgang zwischen Alt- und Neu-Hunsrückern?
Reitz: Manche Grüppchen, die Mennoniten zum Beispiel, schotten sich sehr ab. Aber der Hunsrücker Mensch, da er schon viele Invasionen und Völkerwanderungen überlebt hat, ist von Natur aus neugierig und gesellig, er will mit Fremden ins Gespräch kommen.
Diese neuesten Völkerwanderungen sind der Geschichtsstoff des Jahrzehnts, von dem ich erzählen will. Es zeigt sich: Man braucht nicht in die Welt hinauszuziehen, um Geschichten zu erleben; die Geschichte holt einen ein, noch im hintersten Hunsrück. Und Sie sehen: Es geht mir nicht um Autobiographisches, sondern um Geschichten, in denen eine Lebenswirklichkeit sichtbar wird.
Das Gespräch führten die Redakteure Urs Jenny und Andreas Wrede.